Hurra, das ganze Dorf ist da !(?)!

Ich schreibe hier in letzter Zeit nicht mehr viel, was im Wesentlichen mit der Geburt meines Sohnes zu tun hat. Zeit ist aktuell ein sehr kostbares Gut, aber manche Dinge müssen gesagt werden – auch wenn sie eine Woche zu spät kommen 😉 Los geht es mit dem üblichen Schwanzvergleich: Zu den Lilien gehe ich am allerlängsten, verpasse niemals ein Pflichtspiel und kann die Namen aller Spieler bis zurück in die 50er aufsagen. Kurz gesagt: noch unfehlbarer ist nur der Papst. Und jetzt mal Spaß beiseite. Im Stadion bin ich mit einigen Unterbrechungen seit Mitte der 90er. Damals stand ich auf der Gegengeraden, experimentierte mit Rauch und Feuer, erlebten als wilder Junge auch wilde Zeiten, bevor es mich weiter ans Marathontor und zuletzt in den A-Block zog. Und dort bin ich bis heute geblieben, weil ich die Art liebe, wie dieser Block tickt. In den letzten beiden Jahren hat sich jedoch irgendwie der Wurm eingeschlichen, was besonders beim Pokalspiel gegen Schalke deutlich wurde. Aufruhr am Bölle! – doch warum erst jetzt?

Was war passiert: An besagtem Pokalabend ist der SV Darmstadt 98 – verfolgt von 4,5 Millionen Zuschauern vor den heimischen Fernsehern – in der zweiten Runde des DFB-Pokals gegen Schalke 04 ausgeschieden. Und glaubt man einigen dieser Zuschauer, dann war die Stimmung im Stadion bei diesem 1:3 der totale Mist und die Heimfans nicht zu hören. Ob dem wirklich so war, kann ich abschließend nicht beurteilen, denn ich habe das Spiel im A-Block verfolgt. Und dort war die Stimmung gut. Lieder und Sprechchöre – wie fast immer angestimmt aus den obersten beiden Reihen – wurden von der Masse aufgegriffen und laut begleitet. Rein subjektiv betrachtet waren wir echt laut, lauter sogar als bei vielen Heimspielen, was mir auch von Freunden und Kollegen in der Gegengeraden bestätigt wurde. Das änderte sich jedoch schlagartig nach dem unglücklichen Gegentor in der 58. Minute. Nach dem 1:2 machte sich eine Grabesstille breit und je schneller die Uhr tickte, desto weniger stimmten mit in die Gesänge ein. Zu hören war jetzt wirklich nur noch der Schalker Anhang, der sein inzwischen auch konditionell überlegenes Team anfeuerte – als geschlossener Block, koordiniert und diszipliniert(!), so wie zuhause in der Nordkurve. Der Klassenunterschied war plötzlich nicht nur auf dem Platz spürbar, sondern auch auf den Rängen.

Subjektiv betrachtet habe ich mich am  Ende irgendwann wieder alleine singend vorgefunden. Um mich herum nur Schweigen oder zögerliche Versuche die Stimmen zu erheben, die schnell wieder abebbten. Die Luft war raus, und zwar nicht nur bei den sogenannten „Eventfans“ (auf die gerne alles geschoben wird), sondern ganz allgemein und auch bei allen Dauergästen und Dauerkarteninhabern. Da war es wieder, das „Darmstadt-Phänomen“, das ich nicht so recht begreifen möchte. Ja!, das Gegentor war unglücklich, dumm und kacke, aber so FUCKING what? Die elf Jungs auf dem Platz waren es nicht und gerade jetzt hätte die Mannschaft noch einmal die Unterstützung des gesamten Stadions benötigt. Und was kam? Wie so oft einfach nichts mehr – oder zumindest nicht genug. Bezeichnend dafür war der verzweifelte Aufruf einer Lilie drei Reihen über mir, die sich umdrehte und ein „jetzt verdammt nochmal ALLE“ in die Ränge brüllte. Ergebnislos… Und irgendwann hat’s dann auch mir gereicht alleine zu arbeiten. Ich bin verstummt. Bis auf den Wechselgesang mit der Gegengeraden kam irgendwie nichts mehr. Zumindest nichts, was mich vom Hocker gehauen hätte, geschweige denn die Gästefans.

Das Interessante daran: an einem Pokalabend mit so einem starken Gästeblock fällt das natürlich extrem auf und wird heiß diskutiert. Für mich persönlich war es jedoch der typische Ablauf eines Fußballabends am Böllenfalltor. Das typische Schweigen im A- und F-Block, gekrönt vom vorzeitigen Exitus in den mittleren Blöcken und der Gegengeraden – so übrigens geschehen nach dem 1:3 in der 86. Minute, weil es wieder mal nicht so läuft, wie es der „Heiner“ gerne hätte. Typisch Darmstadt eben! Dass nach Abpfiff doch noch einmal kurz gesungen wurde (per Einspieler übrigens), ist dabei kein wirklicher Trost. Denn da war es schon lange zu spät. Ob das anders gewesen wäre, wenn wir während des Spiels noch einmal alles gegeben hätten, weiß ich nicht. Ich bin mir nach vielen Jahren im Stadion jedoch sicher, dass eine Mannschaft durch das Publikum über seine Grenzen hinaus gehen kann. Auch bei uns, auch am Böllenfalltor. Und genau das fehlt in Darmstadt. Support gibt es oft nur, wenn es auch gut läuft.

Nach der katastrophalen letzten Saison, den vielen Grottenkicks, Fatalpässen (wenn Fehlpass einfach nicht mehr ausreicht) und dem sportlichen Abstieg kann ich diese Haltung sogar ein Stück weit verstehen. Es gab genügend Spiele, in denen ich das Stadion – nach Abpfiff! – mit zusammengepressten Lippen verlassen und mich gefragt habe, warum ich mir das eigentlich jedes Wochenende antue. Das Problem ist nur: so sind nicht alle Spiele. Gegen Schalke waren wir nicht schlecht und gerade nach dem Gegentor hätte einfach mehr drinnen sein müssen, als das kurze Aufflackern des Allez Allez (nicht: Ole Ole!). Wir hätten – und hier bin ich mir mit den Kritikern einig – den Schalkern Paroli bieten und unserem Team den Rücken stärken müssen. Wie so etwas funktioniert, sehe ich in der ersten und zweiten Bundesliga fast jedes Wochenende im Fernsehen. Zwei aktuelle Beispiele dazu: Beim 0:4 gegen den 1. FC Bayern tönte “Schalke meine Sucht” aus tausenden Kehlen durchs Stadion. Saustark! Und als Braunschweig jüngst zuhause mit 0:4 gegen den VfB unterging, wurde You’ll Never Walk Alone noch während des laufenden Spiels aus hunderten, wenn nicht auch tausenden Kehlen durchs Stadion geschmettert – einfach so, ohne Einspieler, ohne Stadionsprecher. So sieht Support aus, Wahnsinn, WAHNSINN! Das sind die Momente, in denen ich mit Gänsehaut vor dem Fernseher sitze und es jetzt, beim Verfassen dieses Beitrags wieder tue.

In Darmstadt scheint so etwas ohne die Hilfe der Stadion-Regie und ihren Einspielern nicht möglich. Solche Gänsehaut-Momente habe ich dort nicht und genau deshalb waren die Schalker Fans an diesem Tag auch lauter. Persönlich finde ich das einfach nur traurig, denn genug Potenzial, um das Stadion zum beben zu bringen, ist durchaus vorhanden. Wie so oft in Darmstadt scheitert die Sache jedoch an unterschiedlichen Mentalitäten. Der neu aufgestellte F-Block hat ein Motto (Block 1898) und ein Konzept, der A-Block seine Gepflogenheiten. Die einen eher italienisch angehaucht, die anderen britisch und nicht wenige ohne jegliches Credo, was die Art und Weise der Unterstützung angeht. Hauptsache laut eben. Die Folge davon: bei uns ist alles anders. Es gibt eben zwei Fanblöcke und die Gegengerade. Die tun sich gegenseitig nicht weh (ganz im Gegenteil sogar, denn der Kontakt ist vorhanden und gut), stehen sie doch weit genug voneinander entfernt, um sich im besten Fall nicht einmal untereinander zu hören. Alles Paletti könnte man meinen. Blöd ist nur, dass das dem Rest des Stadions nicht so geht.

In den mittleren Blöcken und auf der Gegengerade hört man manchmal den A-Block, manchmal den F-Block und nicht selten alle beide gleichzeitig. Sieht man einmal von dem Umstand ab, dass solche ungewollten Wechselgesänge nicht das gelbe vom Ei sind, regen sie auch nicht wirklich zum mitsingen an. So laut und so gut die beiden Blöcke als eigenständige (Sprech-)Organe funktionieren, so verstörend wirken sie oft auf die eigenen Heimfans. „Wir sind Darm…“, äh Moment, jetzt doch „Allez Allez“, oder wie? Und nicht nur das, denn für Gästefans wirkt das alles amateurhaft. „Hurra, das ganze Dorf ist da!“ war einer der Kommentare, die ich zu unserem Auftritt gegen Schalke in Online-Foren gelesen habe. Das ärgert mich! Was auswärts kein Thema ist, mag zuhause nicht gelingen. Die Gründe dafür habe ich oben aufgezählt, auch wenn es eigentlich keine echten Gründe sind. Was wir da in Darmstadt veranstalten mag schön und vor allem individuell sein, gut für die Stimmung und für die Mannschaft ist es nicht. Oder – um noch konkreter zu werden – wenn am Bölle ohne Einspieler Gänsehaut-Gefühl her soll, muss im neuen Stadion ein gemeinsamer Fanblock her.

Das gesagt, möchte ich eins klarstellen: ich lasse mich persönlich sehr ungern von einem Capo mit Megafon dirigieren, sondern setze auf die Kreativität im Block, bei der Gesänge mal von der einen und mal von der anderen Gruppe ausgehen. Nichtsdestotrotz habe ich lieber 500 geschulte Kehlen an einer Stelle und lasse den Funken auf die Masse überspringen, als – und hier schaue ich in die Zukunft – auch in einem neuen Stadion wieder drei Dutzend Gruppen in sieben Ecken zu haben, nur weil dem einen die Fahnen und dem nächsten das Megafon zu doof sind.  Wenn Darmstadt wieder ganz oben mitspielen möchte, bedeutet das nicht nur Veränderung auf dem Platz und an der Bausubstanz, sondern auch in den Köpfen. Es muss möglich sein zuhause so geschlossen und laut zu sein wie auswärts. Es muss möglich sein über den eigenen Schatten zu springen. In einem Block, mit voller Wucht. Dann reicht es akustisch vielleicht auch gegen Schalke 😉

In diesem Sinne: schönen Sonntag!