Für die Deutsche Bahn war heute kein leichter Tag. Für mich auch nicht. Als ich meinen Kollegen aus der Entwicklung am Morgen mitteile, dass ich am Nachmittag nach München reisen werde, lautet die Antwort lediglich „fahren die Züge bei dem Wetter überhaupt?“. Schließlich fegt gerade das Orkantief Niklas über Deutschland und in Nordrhein-Westfalen geht Bahn-technisch nichts mehr. Kein guter Tag für eine Reise – egal mit welchem Transportmittel.
Voller Überzeugung kontere ich mit den Live-Seiten der Bahn, auf der Verspätungen aller Züge minutengenau erfasst sind. Dort ist für den Euro City 117 nach Klagenfurt kein einziger Warnhinweis festgehalten. Start des Zugs ist Frankfurt Hauptbahnhof, was soll da schon schief gehen. Sicherheitshalber fahre ich trotzdem eine halbe Stunde früher zum Bahnhof als üblich, aber auch da scheint alles bestens. Die Abfahrt erfolgt laut Schalttafel planmäßig um 14:37 Uhr. Ich gehe also noch etwas Proviant kaufen und schlendere dann zum Gleis. Wenige Minuten später beginnt das Fiasko. Ein Protokoll:
14:26 Uhr – Die Anzeigentafel schaltet um (oder besser gesagt ab) und eine Stimme ertönt. Der EC 117 nach Klagenfurt fällt heute aufgrund der Wetterbedingungen aus. Ende. Keine Details, keine Vorschläge für Alternativrouten. Mein Bauchgefühl sagt mir, ich sollte besser nach Hause fahren.
14:28 Uhr – Ich überhöre den Einwand meines Bauchs. Nach kurzem Gespräch mit einem Leidensgenossen hechten wir zusammen zum Nebengleis, wo gerade die Regionalbahn nach Frankfurt steht. Von Frankfurt aus geht vielleicht noch was, schließlich ist der Termin wichtig.
14:37 Uhr – In der RB werden erste Stimmen laut, dass ICE-Verbindungen in Richtung Süden wohl nicht mehr in München halten. Auf der Bahn-Seite fänden sich entsprechende Infos. In meiner Version der Bahn-App fehlen diese Hinweise. Wir checken das sicherheitshalber am Schalter in Frankfurt . Die werden wohl Bescheid wissen.
14:51 Uhr – Kurze Absprache mit dem Kollegen über das weitere Vorgehen. Wir nehmen den ICE 721 um 15:54 Uhr. Nur zehn Minuten Verspätung, Sitzplatzreservierung ist auch noch möglich. Läuft bei uns!
15:02 Uhr – Nach minimaler Wartezeit erklärt mir ein freundlicher Mitarbeiter der Bahn an Schalter 5, dass ich ganz unbesorgt in den Zug steigen kann. Von Problemen in München sei ihm nichts bekannt.
15:30 Uhr – Treffen mit dem Kollegen am Gleis. Unser Zug wird weiter planmäßig gelistetet. Auf demselben Gleis fährt zudem ein weiterer ICE in Richtung München ein, der bereits eine Stunde Verspätung hat. Ich werde leicht stutzig, denn Einfahrt und Abfahrtzeiten sind fast identisch. Normalerweise wird hier ein Ersatzgleis angegeben.
15:45 Uhr – Es erfolgt eine Durchsage, laut der unser Zug heute fünf Minuten Verspätung hat. Kein Hinweis auf ein Problem. Ganz im Gegenteil: die Durchsage klingt gelassen.
15:48 Uhr – Der Bahnsteig ist gerappelt voll und die Leute werden langsam hektisch.
15:49 Uhr – Die nette Dame von der Bahn meldet sich noch einmal per Lautsprecher und korrigiert die Ankunft unseres Zuges um weitere fünf Minuten nach hinten.
15:54 Uhr – Ein ICE fährt ein. Das Ziel ist München, aber es ist nicht unser Zug, sondern die verspätete Fahrt aus dem Norden.
16:00 Uhr – Alles drängt sich in das Gefährt, während wir weiter abwarten. Das ist nicht unser Zug. Unser Zug kommt nach dem Zug!
16:05 Uhr – Der Zug leert sich, die Leute verlassen den Bahnsteig. Während wir auf eine Durchsage warten kommt uns eine müde wirkende Schaffnerin entgegen, die uns kurz die Sachlage erklärt. Der ICE 721 fährt heute nicht nach München, sondern bleibt in Frankfurt. Mein Bauch meldet sich wieder. Diesmal eindringlich. „Fahr nach HAUSE“. Ich drücke das Gespräch weg.
16:08 Uhr – Zurück am Schalter wollen wir die Sachlage klären, hören auf dem Weg jedoch über Lautsprecher die Ansage über einen weiteren ICE in Richtung München. Zusammen mit der Herde hasten wir zum Gleis und tatsächlich: dieser Zug wird abfahren. Wir versuchen es und steigen ein. Ein Fehler – gottseidank der letzte für heute.
16:15 Uhr – Der Zug rollt. Läuft bei uns. Läuft so richtig gut bei uns!
16:35 Uhr – Der Lokführer meldet sich per Durchsage und teilt uns mit, dass er eben mit der Leitstelle gesprochen habe. Unser Zug fährt heute nicht mehr nach München. Heute fährt überhaupt kein Zug mehr nach München.
16:55 Uhr – Ankunft in Mannheim. Wir steigen aus dem Zug und auf dem anderen Gleis in die nächstbeste Bahn in die Gegenrichtung. Hauptsache nach Hause.
17:15 Uhr – Der Lokführer meldet sich per Durchsage. Ankunft am Flughafen um 17:50 Uhr. Das wird eng, verdammt eng sogar. Zumindest wenn ich nicht wieder eine halbe Stunden warten will.
18:05 Uhr und 55 Sekunden – Einfahrt in den Frankfurter Hauptbahnhof. Hier war ich schon lange nicht mehr. Ich stehe an der ersten Tür hinter dem Triebwagen und bete, dass ich den Sprint mit Gepäck und Laptop wirklich durchziehen kann.
18:06 Uhr und 20 Sekunden – Jackpot! Ich sitze mit einer Zilliarde Pendlern in der RB Richtung Heidelberg. Mein Rücken tut weh, ich bin müde, ich will nach Hause.
18:34 Uhr – Darmstadt Süd. Beim Aussteigen treffe ich meinen Nachbarn und philosophiere mit ihm übers Bahnfahren.
18:44 Uhr – Ich bin zuhause. Pünktlich zum Abendessen. Sabine hat Pasta gemacht und Henry springt mir in die Arme.
Was ich aus diesem Tag gelernt habe: hör‘ auf Deinen Bauch. Hör auf jeden Fall auf deinen verdammten Bauch! Was ich ebenfalls mitnehme ist eine tiefgreifende Erfahrung zum Krisenmanagement der Deutschen Bahn. Wie kann ein Zug, der planmäßig um 14:27 aus dem Frankfurter Bahnhof rollen soll erst um 14:29 Uhr gestrichen werden? Wie kann es sein, dass Züge bis zur letzten Minute vor deren Stillegung über Lautsprecher und Hinweistafeln angekündigt werden? Wie kann es sein, dass ein Lokführer von all dem nichts mitbekommt und einfach munter in Richtung Süden startet? Wahrscheinlich hätten wir einfach eins und eins zusammenzählen und direkt nach Hause fahren sollen. Aber wie heißt es so schön: hinterher ist man immer schlauer. Das nächste Mal bleiben wir an solchen Tagen einfach gleich zuhause.